Während die EU über Massnahmen für einen künftigen Klimaflüchtlingsstrom nachdenkt, streiten Politik und Wissenschaft öffentlich über den richtigen Weg aus der Klimakrise. Vor der Abstimmung über das Klimaschutz-Gesetz, das von Solarspar aktiv unterstützt wird, hilft das der Meinungsbildung bedingt, ja schürt – befeuert von manchen Medienhäusern – die Verunsicherung. Aber die Fakten zeigen: Ja am 18. Juni!
Dass die Politik sich in den Haaren liegt, ist courant normal. Zum Beispiel was die Solarpflicht bei Neubauten angeht. Der Nationalrat möchte sie ins Gesetz schreiben, der Ständerat sorgt sich ums Privateigentum und die Hoheit der Kantone. Erst ab einer Fläche von 300 m2 soll das geltende Recht greifen. Für neue Parkplätze soll das Gesetz ab 250 m2 gelten, für bestehende ab 500 m2 mit einer Übergangsfrist von fünf Jahren.
Umweltorganisationen sind über diesen Entscheid alles andere als glücklich. Die Schweizerische Energiestiftung (SES) spricht von einem Schritt vorwärts und zwei zurück. Der WWF kritisiert, der Entscheid verhindere, dass «die einfachsten und günstigsten Flächen für Sonnenstrom genutzt werden».
Dass sich nun aber zwei Schweizer Klimaschwergewichte öffentlich in die Wolle kriegen, ist doch eher ungewöhnlich. (Lesen Sie ganz am Schluss, was die Expertin Sonia I. Seneviratne klipp und klar festhält, ohne in das virile Hick-Hack einzustimmen – es sei schon mal verraten: Ja zum Klimaschutz-Gesetz am 18. Juni.) Aber zuerst dies: In einem ausführlichen Interview mit der Sonntags-Zeitung hatte sich letzte Woche Andreas Züttel, Leiter des Forschungslabors für erneuerbare Energien der ETH Lausanne und der eidgenössischen Materialprüfungsanstalt (Empa), kritisch zum eingeschlagenen Pfad der Energiewende geäussert. Züttel ist ausserdem Professor für Chemische Physik in Lausanne, spezialisiert auf die Speicherung von Strom als Wasserstoff oder Flüssigbrennstoff. Und er ist Leitautor einer grossen Studie, die Machbarkeit und Kosten der Energiewende untersucht hat. Das ist wichtig zu wissen, in dieser Debatte. Ob er am 18. Juni zum Klimaschutz-Gesetz Ja sagen wird, wusste er aber am Sonntag vor einer Woche (noch) nicht.
Nun hat sich der renommierte Klimaforscher Reto Knutti, einer von über 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich für das Klimaschutz-Gesetz stark machen, gemeldet. Knutti ist Professor an der ETH Zürich, Mitglied des Weltklimarates und Mitautor mehrerer IPCC-Berichte. Auf Twitter äusserte er sich dezidiert: Küttel sei «ohne Zweifel Experte auf Wasserstoff, aber die Energiewende ist nicht primär ein Problem von Entwicklung von Wasserstoff, sondern die Modellierung eines Energiesystems, technisch, wirtschaftlich, politisch».
Der professorale Boxkampf entzündet sich aber vor allem am Solarpotenzial. Das werde in der Studie, auf die sich auch das Bundesamt für Energie beruft, massiv unterschätzt. Das haben auch Solarlobby und -branche lautstark kritisiert. Gleich doppelt so gross sei sie nämlich: Anstatt 24 Terawattstunden seien es 50 – und das allein auf Dächern. Knutti twitterte: «Kein Wort, dass das Solarpotenzial Faktor 2-3 unterschätzt ist, dass Effizienz in den Gebäuden vergessen geht, und dass unrealistische Annahmen über Autarkie gemacht werden.» Züttels Studie gehe nämlich davon aus, dass die Schweiz sämtliche Energie künftig selbst herstellen und energieautark werden müsse.
Die Antwort von Andreas Züttel liess nicht lange auf sich warten. «Reto Knutti ist Klimaforscher, kein Energieexperte und schon gar nicht Experte für Energiespeicherung.» Er hingegen sei das schon und fügt, nur leicht süffisant an: «Schade, hatte Herr Knutti nie die Gelegenheit, diese Vorlesung zu besuchen.»
Da wären wir also. Wer hat denn nun Recht? Wahrscheinlich beide ein bisschen. Eben hat Christof Bucher, als Professor für Solartechnologie an der Fachhochschule Bern ebenfalls ein Schwergewicht, eine Übersichtsstudie veröffentlicht, die das Potenzial auf 30 bis 50 Terawattstunden festlegt. Züttel liegt mit seinen 24 TWh also an der untersten Grenze, Knutti mit seinen 50 an der obersten.
Einig sind sich alle, dass raschmöglichst gehandelt werden muss. Genau dieser Druck aber könne dazu führen, dass man mit falschen Entscheidungen in der Energiewende Wohlstand und Wirtschaft gefährde, ja ein Land sogar ruinieren könne, warnt Züttel. Während Knutti kritisiert: «Kein Wort dass es nicht nur Kosten der Energiewende geht, sondern um die Zukunft unseres Planeten und den Wirtschaftsstandort Schweiz.»
Die Handschuhe sind montiert, die Bandagen straff geschnürt. Dass sich die Herren Professoren angesichts der Dringlichkeit und schierer Grösse der Aufgabe, die Erderwärmung zu begrenzen, nicht an einen Tisch setzen, ihre Meinungsdifferenzen wie Erwachsene besprechen und sich vielleicht sogar zu einer gemeinsamen Haltung durchringen können, ist doch eher befremdlich.
Derweil schreibt Sonia I. Seneviratne, IPCC-Autorin, und sehr renommierte Wissenschaftlerin ohne Allüren, zum neusten Klimabericht Anfang Mai im Blick:
«Die Schlussfolgerungen sind klar: 1) Ja, wir haben eine Klimakrise und müssen dringend handeln, aber 2) es gibt Lösungen, und die Kosten sinken ständig. Aus all diesen Gründen ist es zu hoffen, dass das Schweizer Volk im Juni für das Klimagesetz stimmt, das von einer breiten, parteiübergreifenden Koalition von links bis rechts getragen wird. Dies wäre ein nicht zu vernachlässigender Beitrag zur Klimastabilisierung unseres Planeten und ein Zeichen der Hoffnung für die jüngeren Generationen.» Wir hören auf Sie!
Christa Dettwiler