Skigebiete schlagen kollektiv Alarm, weil der Schnee aus Kanonen unbezahlbar wird. Unternehmen fallen ob tausendprozentigen Strompreisaufschlägen reihenweise in Ohnmacht. Nicht einmal einen über den Durst trinken geht mehr: Kohlensäure, ein Abfallprodukt der Düngerherstellung und entscheidend für ein gutes Bier, wird knapp, weil Hersteller:innen wegen der hohen Strompreise die Produktion herunterfahren oder ganz einstellen. Nur im Thurgau schaut ein Dorf gelassen zu, wie die Welt in Scherben fällt.
In Amlikon-Bissegg, 1300 Bewohner:innen, wird der Energie Club Schweiz wohl kaum Unterschriften für seinen neusten Geniestreich sammeln können. Dieser nämlich lanciert eine Initiative mit löblichem Ziel: für eine sichere, eigenständige und saubere Stromversorgung. Die Sprengladung dieser Initiative ist in einem Satz verborgen: «Alle klimaschonenden Arten der Stromerzeugung sind zulässig». Nach Ansicht des Energie Clubs gehören dazu nicht nur Erneuerbare, sondern explizit auch Atomkraftwerke. Die Präsidentin des Initiativkomitees, SVP-Mitglied Vanessa Meury, stellt klar: «Wir können nicht auf AKW verzichten.»
Nun gut, das mag Frau Meury durchaus glauben. Wie aber Atomstrom zu «sicher, eigenständig und sauber» passen soll, bleibt rätselhaft. Nur weil ein AKW-Strom CO2-arm produziert, täuscht das nicht darüber hinweg, dass der Brennstoff dafür alles andere als eigenständig, sicher und sauber ist. Dass auch der Abbau des Brennstoffs, der Transport und die Endlagerung diesen Adjektiven diametral widersprechen, mögen für die Initiantinnen Details sein, die getrost übersehen werden können. Dass ein neues AKW in frühestens 25 Jahren in Betrieb gehen kann, und kein einziger Energieversorger die immensen Summen dafür aufzuwerfen bereit ist, sind offenbar höchstens Kleinigkeiten, die das Narrativ stören.
Amlikon-Bissegg jedenfalls braucht kein neues AKW. Denn das Dorf hat das Ziel der Initiative längst umgesetzt. Übers Jahr gesehen produziert es dreieinhalb Mal soviel Strom, wie es selbst benötigt. Und das blitzsauber. Der Nachhall von Fukushima war bis in den Thurgau zu hören, und als Bundesrat und Parlament 2011 den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen, lancierte die Gemeinde einen Förderfonds für Solaranlagen. Gespeist wird der Fonds aus einer Abgabe auf dem Stromverbrauch von verschmerzbaren 30 bis 40 Franken pro Haushalt und Jahr.
Die Gemeindeversammlung stimmte dem innovativen Energiekonzept grossmehrheitlich zu, «und dann ging der Boom los», wie Gemeindepräsident Thomas Ochs der Wochenzeitung WOZ erklärte. «Es lief wie immer im Leben übers Portemonnaie.» Denn die Gemeinde bezahlte aus dem Fonds rekordverdächtige 25 Rappen pro Kilowattstunde Solarstrom.
Überhaupt ist der konservative Thurgau in Sachen Energieversorgung ein Vorzeigekanton. Die Sonne liefert dort zehn Prozent des Stroms. Vielleicht hätte sich der Energie Club Schweiz gescheiter im Thurgau umgesehen, bevor er mit seiner Initiative wertvolle Steuergelder verschleudert. Dort wurden nämlich etliche zündende Ideen umgesetzt, weitere stehen kurz vor der Realisierung. Als Pionierkanton fördert der Kanton jetzt Solargrossanlagen, für Dutzende Projekte liegen Gesuche vor. Zudem sind fünf Seethermie-Anlagen in Planung, die dem Bodensee im Winter Wärme und im Sommer Kälte entziehen sollen.
Sowohl Amlikon-Bissegg wie der ganze Thurgau sind übrigens keine Grünen- oder Linken-Hochburgen. 2019 gingen fast 60 Prozent der Stimmen an die SVP. Ohne die Unterstützung aus dem rechtsbürgerlichen Lager wäre die zukunftsgerichtete Energiepolitik nicht möglich gewesen. Kein Wunder liess sich SVP-Kantonsrat Paul Koch in der WOZ so zitieren: «Wir ticken ein bisschen anders als die nationale SVP.»
Christa Dettwiler