Es macht nachdenklich: Grübeln Politiker auch über Widersprüche nach, wenn sie nachts wach im Bett liegen? Verkraften sie die Diskrepanz, zwischen ihren Reden und ihrem Tun? Etwa gleichzeitig mit dem WEF in Davos und dem G7-Treffen der Energie- und Klimaministerinnen, veröffentlichte die englische Zeitung «The Guardian» die Ölförderpläne der USA. Die Widersprüche zwischen dem, was dringend nötig ist und dem, was real geschieht, sind nur noch schwer auszuhalten.
Die reichsten sieben Industrienationen wollen bis 2035 die Stromversorgung «überwiegend» klimaneutral und den Verkehr «weitgehend» emissionsfrei umgebaut haben. In Davos bekräftigte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, die Klimaziele mit noch einmal mehr Entschlossenheit zu verfolgen. Gut möglich, dass an beiden Veranstaltungsorten die Temperaturen wegen der Menge an heisser Luft kurzfristig stark angestiegen sind.
Die reichen G7-Länder wollen fossilen Energieträgern ab Ende des Jahres die direkte öffentliche Finanzierung abdrehen – ausser in gewissen, limitierten Fällen. Ab 2026 gibt es keine fossilen Subventionen mehr, allerdings nur wenn sie «ineffizient» sind. Klimaschädigende Kohlekraftwerke sollen zwar abgestellt werden, nur wann haben die Minister nicht gesagt.
Wen wundert’s, dass Klimafachleute die G7-Pläne als «schwammig» bezeichnen, als «Lippenbekenntnisse». Die Pläne wird kaum ausreichen, die grösste Gefahr zu bannen, die Wissenschaftlerinnen des Weltwirtschaftsforums im Januar in ihrem Global Risks Report 2022 definierten: Climate Action Failure. Ein Versagen der Klimapolitik also.
Dass diese Gefahr akuter ist denn je, zeigt ein grosser Report des Guardian über die Pläne der Ölbohrnation Nr. 1, den USA. Sollten diese Pläne, an noch mehr Öl und Gas zu kommen, alle umgesetzt werden, wird die Atmosphäre mit zusätzlichen 140 Milliarden Tonnen Treibhausgasen angereichert. Mehr als genug, um der Welt endgültig den Garaus zu machen.
Die Pläne für konventionelle Bohrungen und Fracking umfassen Gebiete vom Golf von Mexiko bis in die Berge von Colorado. Die grössten Vorkommen warten aber in Westtexas und New Mexico. Dass sie dort im Boden verbleiben, scheint Sam Ori, Direktor des Energy Policy Institute an der Universität von Chicago nicht zu glauben: «In einem Umfeld, wo es profitabel ist und es einen Markt für Öl gibt, ist es unwahrscheinlich, dass über die nächsten Jahrzehnte nicht gebohrt wird.»
Exxon hat bereits angekündigt, dieses Jahr die Produktion aus dem Perm-Becken im südwestlichen Teil der USA um 100 000 Fässer pro Tag zu steigern, Chevron zieht mit plus 60 000 nach. Die Produktion aus dem Perm-Becken wird dieses Jahr neue Rekordwerte erzielen. Im März wurden 904 neue Bohrbewilligungen erteilt, fast doppelt so viele wie in einem durchschnittlichen Monat. Hohe Ölpreise und noch höhere Nachfrage haben diesen Rekord möglich gemacht.
Trotz gewaltiger Umweltprobleme, wie Feuer und Überflutungen, schwindender Schneedecken, Wasserknappheit, Dürren und der schlechtesten Luftqualität des Landes wird auch in Colorado kräftig weiter Gas gefördert. Auch dieses Produkt ist auf dem Weltmarkt aktuell eines des gefragtesten. Was das bedeutet, weiss auch die Aktivistin und Grundschullehrerin Therese Gilbert aus Colorado. Sie spricht, anders als die Teilnehmer am WEF und G7-Klimagipfel, Klartext: «Der Krieg in der Ukraine wirft die Klimaschutzbemühungen zurück, und zwar unter dem Deckmantel des Patriotismus. Dabei wäre die patriotische Wahl, uns vom Diktat des Öls zu verabschieden und Erneuerbaren zuzuwenden.»
Angesichts dessen, was in der realen Welt der Gas- und Ölförderung passiert, werden jene, die über die Klimapolitik entscheiden, in nächster Zeit wohl kaum ruhig schlafen können.
Christa Dettwiler