Die Energiepreise explodieren. Öl, Gas, Kohle, Benzin und Strom kosten so viel wie lange nicht mehr. Schuldige müssen her. Die Russen. China sowieso. Und natürlich der Klimaschutz, der die Kohle in die Pleite getrieben hat. Dass die Industrienationen die Energiewende verschleppt, verzögert, verschlafen haben, ist in der allgemeinen Berichterstattung höchstens eine Randnotiz. Just in diese Krisenmeldungen platzt die Nachricht, dass an der Staumauer des glarnerischen Muttsees das grösste alpine Sonnenkraftwerk der Schweiz seinen Betrieb aufgenommen hat.
Die rund 5 000 Module der 2,2-Megawatt-Anlage auf 2 500 Metern über Meer wird Jahr für Jahr über drei Millionen Kilowattstunden Strom liefern.
Das Muttsee-Kraftwerk ist ein Paradebeispiel für den Bau von Sonnenkraftwerken auf bestehender Infrastruktur. Und gerade in diesem Sektor gibt es noch grosses Potenzial. Wie gross hat die Studie «InfraSolaire» ausgelotet. Sie kategorisiert systematisch die potenziellen Infrastruktur- und Konversionsflächentypen und bleibt dabei nahe an der praktischen Umsetzbarkeit. Untersucht wurden etwa Verkehrswege von Bahn und Strassen, technische Bauten wie Stauseen, Abwasserreinigungsanlagen oder Lawinenverbauungen, aber auch Konversionsflächen wie Deponien oder Kieswerke.
Zwischen neun und elf Gigawatt schätzt die Studie das Potenzial ein. Werden Wirtschaftlichkeit und Regulierungen mit einbezogen, bleiben noch 1,5 bis drei Gigawatt. Klar ersichtlich wird aus der Studie, wie entscheidend das regulatorische Umfeld beim Ausbau der Photovoltaik ist. Damit die Sonne den sauberen Strom liefern kann, den die Schweiz so dringend benötigt, müssen die Bewilligungsverfahren vereinfacht und verkürzt werden. Hier sind erste Schritte im Bundesamt für Raumentwicklung angekündigt. In der Revision der Raumplanungsverordnung sollen Solarkraftwerke auf Infrastrukturbauten ausserhalb der Bauzonen vereinfacht werden.
Damit sich solche grossen Kraftwerke wirtschaftliche betreiben lassen, müssen auch die Fördermassnahmen überdacht werden. Die Revision des Energiegesetzes schlägt etwa eine höhere Einmalvergütung vor. Auch eine Marktprämie, damit der Strom kostendeckend verkauft werden kann, ist angedacht.
Bereits bestehende Bauten für die Produktion von sauberem Strom zu nutzen, liegt auf der Hand. Wenn Lärmschutzwände oder Parkplätze, Stauseen, Gleis- und Perronüberdachungen, Böschungen von Autobahnen mit Solarpanels versehen werden, müssen keine neuen Flächen zugebaut werden. Was bereits besteht, wird doppelt genutzt. Noch ist es teurer, auf Infrastrukturbauten Sonnenkraftwerke zu bauen und der Eigenverbrauch ist in der Regel tiefer. Eine Ausnahme sind grosse Parkflächen. Mit der zunehmenden Elektromobilität sind sie ideal, um den Strom gleich an Ort zu produzieren und zu verwenden. Aus demselben Grund kämen auch Armeestandorte für die Stromproduktion in Frage.
Die Studie geht wirklich ins Detail, zeigt Nutzen und Herausforderungen der möglichen Standorte und wirft auch einen genauen Blick auf die Wirtschaftlichkeit. Und genau diese verändert sich mit den Bocksprüngen, die der Energiemarkt zurzeit macht. Der Gaspreis ging letzte Woche durch die Decke. Erdgas war fünfmal so teuer wie im April. Ein Fass Brent Öl kostete mehr als 80 Dollar, der höchste Preis seit drei Jahren, Heizöl wurde in der Schweiz seit Anfang Jahr um über 30 Prozent teurer, der Benzinpreis stieg um rund 40 Rappen pro Liter. Die Kohle befindet sich auf einem Allzeithoch.
Schon läuten laut die Alarmglocken. Fabriken werden wegen Stromausfällen geschlossen, die beginnende Heizperiode wird den Druck weiter erhöhen. Frankreich will seinen Bürgerinnen 100 Euro für die Stromrechnung zuschiessen, Italien budgetiert 4,5 Milliarden Euro an Staatshilfen und Steuersenkungen, Spanien will Gewinne der Energiekonzerne in Höhe von drei Milliarden Euro abschöpfen und Konsumenten gutschreiben. In Deutschland sagt der Chef des Verbraucherzentrale-Bundesverbandes, Klaus Müller: «Es drohen Energiepreise des Grauens.» Und China setzt wieder auf Kohle. Aber am Muttsee sorgt die Sonne für Betrieb.
Christa Dettwiler